Montag, 23. Oktober 2006

Notizblock 10 (Kö)

Ich ging durch die Altstadt und kam zum ersten Mal auf die Königsallee. Ich war verblüfft: ein kerzengerader Kanal, zu beiden Seiten bestanden mit großen. alten Platanen und Kastanienbäumen, in nahen Abständen auf Brücken zu überqueren. Das war also die schon mehrmals genannte „Kö“, meist als „Prachtmeile“ beschrieben, während sich die „Freßmeile“ in der Bolkerstraße und deren Umgebung befindet. Ich notierte mir folgende Lokale: Bolker 9, Am Jan Weber, Diebels Fasskeller, Louisiana, Da Spiegel, Nightlive, Café Madrid, Pizzahut, Weißer Bär, Coronado, Zum Schlüssel, Zum Goldenen Kessel, Häagen Daz, Balthasar. Irgendwo dazwischen die Elefanten-Apotheke, ein Zahnarzt, ein Internist und ein evangelischer Kindergarten.

Auffällig war, daß sich – als ich von der Elberfeldstraße einbog – die Königsallee nach rechts hin erstreckt, mir etwa einen Kilometer lang erscheinend, von Norden nach Süden, wie an der Sonne zu sehen war, vom Hofgarten zur Friedrichstadt, dem Stadtteil, in dem mein Hotel liegt. Das Wasser im Kanal fließt nach Norden. Der müßte demnach aus dem Schwanenspiegel entspringen, was jedoch aus der Karte nicht ersichtlich ist. Doch der Zufluß zur Landskrone, einem s-förmigen Teich am Rand des Hofgartens, ist eingezeichnet.

Beim Weitergehen bemerkte ich gleich, daß die Westseite fest in Banker-Hand ist: Deutsche Bank, Commerzbank, beide sich über einen ganzen Block erstreckend, und Trinkaus & Burkhardt, die älteste Privatbank Düsseldorfs - alle hier ansässig. (Der Heinrich-Heine-Platz schließt im Süden mit der Trinkausgasse ab.)

Also wollte ich auf die Ostseite wechseln, um mich von dem unablässigen Menschenstrom mitreißen zu lassen, von dem sich wieder Seitenlinien über die Girardetbrücke in Richtung Innenstadt abspalteten. Ich blieb aber auf eine kleiner Bastion in der Mitte der Brücke. Auf einer der beiden Bänke saß bereits ein junges Paar, das – so meine Annahme – mir über die Schulter beim Schreiben und Lesen zuschauen würde. Denn die Skulpturengruppe, ein Fisch mit einem mächtigen Schwanz, der gerade von einem „Fischer“ mit einer Lanze erstochen wird, während ihm ihn steinerner Knabe von hinten dabei zuschaut, war wohl ein ihnen wohl allzu bekanntes Motiv.

Ich nahm mir die Zeit, um in die Vergangenheit abzutauchen, ohne meine gegenwärtigen Sinne zu verlieren. Ich beobachtete weiterhin, was sich rundherum tat und erwartete von dem Pärchen zumindest ab und zu ein Wort.

Mein Ausblick verband mich mit den Koalitionskriegen, in denen Frankreich seit 1795 die linksrheinischen Gebiete besetzt hatte, aufgrund schon früher erhobener Ansprüche. Zwei Jahre später wurden sie dem französischen Staatgebiet angeschlossen, Napoleon Bonaparte nahm sie am 9. März 1801 offiziell in Besitz, nachdem es einen Monat vorher zum Frieden von Lunéville gekommen war, unterzeichnet von ihm und Franz II. für Österreich und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Auch der zweite Versuch des Europäischen "Mächtekonzerts" (Großbritanniens, Österreichs, Rußlands, des Osmanisches Reichs, Portugals und des Kirchenstaats), die Französische Revolution und ihre Auswirkungen einzudämmen oder gar ganz rückgängig zu machen, war mißlungen.

Interessant ist, daß dadurch französische Gesetze staatsrechtliche Anerkennung erhielten, die subsidiär in den linksrheinischen deutschen Bundesländern noch bis heute oder auch in jüngste Zeit gelten, etwa das hauptberufliche sog. linksrheinische Notariat, das Friedhofswesen oder bestimmte Staatsleistungen an die Kirchen. Der für die Wirtschaftsentwicklung des Rheinlands wichtige Code Civil wurde dort erst 1900 durch das Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst.

Nachdem das Pärchen gegangen war, wurde die Bank neben mir bald von einem gut gekleideten Bürger besetzt, der sich mit einer Tasche und einem Aktenkoffer breit machte, um sogleich seine Handybox abzuhören und dann einige Nummern zurückzurufen, wobei er mir den Rücken zuwandte. Einmal stand er auf und lehnte sich an das geschwungene Metallgeländer, zum Graben hin redend.

Schließlich, recht unvermittelt, sprach er mich an, da ich jetzt nichts schrieb, und fragte, ob ich von hier sei, eine – wie er gleich anfügte – müßige Frage, da ja die meisten auf den Straßen nicht von hier seien. Ich nannte meinen Herkunftsort, und er sagte: Dann muß ich Ihnen schnell die Namensgeschichte erzählen. Hab ja eigentlich keine Zeit, aber manchmal muß man doch eine kleine Pause einlegen können, nicht?

Daß die Königsallee ihren Namen einer Entschuldigung des Magistrats gegenüber König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen verdanke. 1850 - oder 1851? - habe sich eine Delegation des Rates samt Bürgermeister nach Berlin begeben, wo sie - im Frühling, im März jedenfalls - vom König im Schloß Charlottenburg empfangen wurden. Dem sei dabei als kleinen Akt einer Wiedergutmachung angeboten worden, die Kastanienallee in Königsallee umzubenennen, was der König gnädigst zu genehmigen geruht habe.

Sie werden jetzt fragen, was denn passiert war, um diesen Herrn gnädig stimmen zu wollen? Sie wissen ja, das war damals eine unruhige Zeit, die Jahre um 1848. Die blutige Revolution in Frankreich, die republikanische Partei hat über die Juli-Regierung gesiegt, in Deutschland haben große Teile der Bevölkerung Presse- und Versammlungsfreiheit und Volksbewaffnung gefordert. Auch die Bürger dieser Stadt haben den König in einer Petition gebeten, Pressefreiheit zu gewähren und die Zensurgesetze zu beseitigen.

Worum ist es eigentlich gegangen? Um eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, um soziale Gerechtigkeit. Ja, das wollten sie alle, Sie können sich’s denken - die Handwerker, die Gesellen, die Gelegenheitsarbeiter, aber natürlich auch die Intellektuellen und Künstler. Und in Düsseldorf stellte der Stadtrat deshalb eine Bürgergarde auf.

Er blickte auf die Uhr: Ich sag Ihnen das weitere nur in Stichwörtern - Deutsche Nationalversammlung, in Frankfurt, von wegen Deutscher Einheit. Dem Preußenkönig haben die deutschen Staaten die deutsche Kaiserkrone angetragen.

Naja, was soll ich sagen: mitten im Sommer 1848 hätte ein großes Einheitsfest stattfinden sollen, zur Verbrüderung von Bürgerschaft und Militär, auf dem heutigen Grabbe-Platz, von dem Sie wahrscheinlich kommen, hat man eine kolossale Germania-Statue aufgestellt. Kolossale Stimmung, sag ich Ihnen, wirklich kolossal! Ja, und der Preußenkönig, der sich ja gegen jede demokratische Bewegung gestellt hat, wollte seinen Schwager besuchen, einen Hohenzollern-Prinzen hier in seinem Schloß, gewissermaßen eine Provokation.

Also Diskussion, Diskussion, ob man den überhaupt und wer dann zum Bahnhof, ja, Bahnhof, es hat ja schon eine Eisenbahn gegeben, nach Köln, wohin der Preuße eigentlich wollte - wo sie begonnen hat, weiß ich nicht. Gut, man beschloß die Begrüßung, und der König und sein ganzer Anhang, die fuhren in offenen Kutschen vom Bahnhof zum Schloß, und der Weg führte eben da über die Kastanienalle. Menschen von überall aus der ganzen Umgebung hier, mit der Eisenbahn, mit dem Schiff gekommen oder zu Fuß. Nicht nur Jubel, keineswegs, das können Sie mir glauben!

Das Handy läutete, er schaute auf das Display und sagte: Ah, tut mir leid, ich muß weg. Er nickte mir zu, lächelte: Bei Interesse mehr im Internet! Tschüß!

Da fand ich dazu tatsächlich einen Tagebuch-Eintrag von Albert Küster aus Jahr 1906: "Mit Pfeifen und Brüllen wurde der König von einer großen Menge begrüßt, auf der Kastanienallee wurde er und der neben ihm sitzende Prinz Friedrich von einem Buben, der an den Wagen heransprang, sogar mit Kot beworfen. Mein Vater und ich standen in der Nähe, so daß die Einzelheiten trotz der dicht gedrängten Menge, in welche der Junge verschwand, uns nicht entgingen. Prinz Friedrich erhob sich im Wagen und entfernte von dem Anzuge des Königs den darauf haftenden Schmutz. Der empörende Auftritt erregte bei jedem ordentlichen Menschen, selbst den republikanisch gesinnten, den gerechtesten Abscheu."

Und aus anderer Quelle: „Die Kutsche fuhr schneller und brachte den König zum Schloss Jägerhof, wo er von der Generalität empfangen wurde. Hier gab es dann ein Diner, an dem auch Honoratioren der Regierung und der Stadt teilnahmen. Gegen halb 6 Uhr setzte der König seine Reise nach Köln mit dem Sonderzug fort. Schnell verbreitete sich die Nachricht, der König sei ausgebuht und von einem Pferdeapfel getroffen worden, in der Stadt. Vor allem die Soldaten der preußischen Garnison empfanden dies als persönlichen Affront und gingen mit gezücktem Säbel gegen Düsseldorfer Bürger vor. Eine Bürgerwehrpatrouille versuchte vergeblich zu schlichten, Bürger bewaffneten sich, das Gedränge wurde immer größer, schließlich fielen Schüsse. Die Bilanz der Auseinandersetzung, die bis in die Nacht dauerte waren vier Tote, darunter drei Soldaten und ein Bürger, sowie zahlreiche Verletzte.

Der Stadtrat verurteilte die Übergriffe der Soldaten, beschloss Maßregeln gegen die Unruhen und entschuldigte sich für die Exzesse sowohl beim preußischen König als auch bei Prinz Friedrich. Den Ruf "Hauptherd der Anarchie und Unordnung für die Rheinprovinz" zu sein, wurde die Stadt aber so schnell nicht wieder los, auch hatte der sehr beliebte und freigiebige Prinz Friedrich beschlossen, nicht mehr in Düsseldorf zu wohnen. Er verließ die Stadt unter Protest und zog sich nach Berlin zurück. Erst 1855 kam eine Versöhnung mit der Stadt Düsseldorf zustande. Ihrem Ruf als Unruheherd wurde die Stadt Düsseldorf wieder im Mai 1849 gerecht, als es zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Bürgern und dem preußischen Militär kam. Diesmal griff die Staatsmacht jedoch so rigoros durch, dass aller Widerstand erstickt wurde.“

Sonntag, 22. Oktober 2006

Notizblock 09 (Das Baby)

C. schickte mir folgende Traumaufzeichnung per Mail. Damit war ich für Stunden „besetzt“!

„Das Baby. Ich bin mit dem Baby von E.s Frau allein. Ich finde es wunderbar, zum Küssen. Ich liebkose es und küsse es am ganzen Körper. Dann stecke ich es in den Mund und schlucke es.
Ich bin erschüttert. Was wird jetzt sein?
Ich gestehe es E. Er muss helfen können. Seine Frau ist die Mutter des Babys, seine Frau in der Realität ist meine Therapeutin auch im Traum.
Alle sind bestürzt, er verteidigt mich. Das ist nicht so schlimm, meint er, es würde schon beim nächsten Mal durch den After wieder austreten, sozusagen geboren werden. Aber ich fürchte um das Baby. Ich sage, was ist mit der Salzsäure, die wird das zarte Kind zerfressen. Aber er sagt, nein, Babys sind dagegen immun.
Die Frau von E. ist maßlos böse auf mich, sie würde mich am liebsten töten, was ich verstehe. Auch meine Therapeutin, die im Traum die Schwester von Frau E. ist, sieht mich ernst an. Das würde nun eine Herausforderung sein, meint sie, zugleich die Schwester des Opfers und die Therapeutin der Täterin zu sein. Ich beteuere, dass ich mich auch sofort einer Magenoperation unterziehen würde, aber E. winkt ab. Das wäre zuviel Aufwand.
Die anderen anwesenden Frauen sind alle sehr aufgebracht. Wie kann mir nur so was passieren, wie konnte ich nur dieses Baby essen, eine derartige Distanzlosigkeit!
Ich bin sehr unglücklich, denn ich habe nun mein Leben verändert, zwar keinen Mord begangen, aber ein Leben in Unordnung gebracht.
Wieder dränge ich, eine Operation vorzunehmen. Denn das ginge schneller, und ich hätte die Sicherheit, dass das Baby dann wieder bei seiner Mutter wäre. Doch man will das nicht tun. Ich gehe aufs Klo, aber noch kommt das Baby nicht. Ich sorge mich auch über diese zweite Geburt und kann nicht glauben, daß das so einfach sein würde.
Ich gestehe mehreren Leuten meine Tat. Mit jedem neuen Erzählen, denke ich, wird es besser. Aber nichts tut sich, weder meine Unruhe legt sich noch rührt sich etwas in meinem Magen. Ich esse Kraut und Äpfel. Ich denke an die arme Frau, die ohne Baby dasteht.
Dann gibt es die Meldung, dass Schiffe angekommen sind, und zwar mit Waren, die niemand haben will. Alles strömt zum Hafen. Ich bin desinteressiert, denn ich brauche im Moment nichts außer Erlösung.
Dann gehe ich mit einem Freund, im Traum ist es mein Cousin, einen Abhang hinunter. Wir wollen ins Kino in D. und sind spät dran.
Aber der Weg ist gefährlich und voller Laub. Was, wenn ich hier mein Baby bekomme?
Mein Großvater kommt nach und will mir andere Schuhe borgen. Mein Vater hat sich nicht verabschiedet, er ist böse auf mich. Ich frage mich warum, schließlich hat er mir alles angetan.
Ich schlittere den Abhang hinunter und versuche dem Freund von dem Baby zu erzählen. Aber der scheint nicht sonderlich interessiert zu sein. Und ich denke: Was tue ich, wenn das Baby nie kommt?
Dann sind wir in D. Es sind schon andere Leute dort, die Häuser stehen einsam herum, man kennt mich nicht mehr."

Samstag, 21. Oktober 2006

Notizblock 08 (127 corpos)

Der weitere Weg führte mich durch Altstadt, vorbei an der Kunstakademie, durch die Mühlengasse zuerst zur Kunsthalle Düsseldorf, dann zum Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen. Nur mit der darin befindliche Ausstellung befindlichen Ausstellung 127 corpos von Teresa Margolles wollte ich mich befassen.

Ein langer, leerer, weißer Raum. Darin eine aus 127 Einzelteilen zusammengeknüpfte Schnur straff gespannt, etwa in Hüfthöhe. So wurde der Raum in einen betretbaren und in einen nicht betretbaren Abschnitt geteilt. Die Schnur verhinderte das Weitergehen. Man hätte über sie steigen können. Man könnte auch unter ihr hindurchkriechen. Ich dacht nicht einmal daran.

Ich ging mehrmals ganz nah entlang dieser Schnur und schaute mir die einzelnen Teile, die Verknotungen und Aufzwirbelungen, aber auch die Verfärbungen ganz genau an. Ich hatte kein anderes Gefühl, als daß ich das wie durch ein Mikroskop betrachten müßte, obwohl ich wußte, daß die Verfärbungen nicht von Farbe, sondern Flüssigkeiten und Fett aus toten menschlichen Körpern stammten.

Was hier verknüpft wurde, waren die Überreste von Fäden, mit denen Körper von Menschen, die eines gewaltsamen Todes gestorben sind, nach der Autopsie vernäht worden waren - der Überschuß nach dem Vernähen des Thoraxial-Schnittes, der gewöhnlich im Abfallkübel verschwand.

Ich suchte nach Kriterien der Aufeinanderfolge der Fäden, fand aber keine gefunden. Die Partikel waren verschieden lang; die Knotenenden waren verschieden lang; manchmal zwirbelten sich die Enden; an manchen Stellen waren sie rötlich oder bräunlich gefärbt.

Ich machte etwa 20 Fotos mit Blitz aus ziemlicher Nähe. Auf jeden Foto war mindestens ein Knoten zu sehen. Durch den Blitz war das sichtbare Fadenstück viel heller als bei natürlicher Betrachtung dieses Raums. Der Hintergrund war dunkel, der Schatten hob sich deutlich ab. Ich roch währenddessen nichts Besonderes, was auch nur ein Manko meines Geruchsempfindens sein konnte.

Dieser auf einer Länge von ca. 40 Metern zusammengeknotete Faden war Trägermaterial. Die Einzelfäden hatten etwas von den Körpern der Ermordeten aufgesaugtn - scheinbar sanfte Verweise auf Gewalttaten. Dahinter standen aber plötzlich beendete Leben, Familien, die ins Unglück gestürzt wurden, zerstörte menschliche Strukturen. Jedes Fadenstück verband mich mit einem menschlichen Körper, der bereits begraben und vielleicht schon verrottet war.

Es gab keinen Anhaltspunkt, der mir als Betrachter erlaubte, mich an etwas Individuelles zu erinnern. Es ging nur um die Tatsache, daß mit jedem Gegenstand, und sei er auch noch so unscheinbar, mindestens eine Lebensgeschichte verbunden ist.

Margolles sagte in einem Interview, sie beschäftige sich mit der physischen und sozialen Verwandlung des Körpers. Obwohl sie sich mit gewaltsamem Tod, Schmerz und Leere auseinandersetze, wolle sie Schrecken und Ekel nicht in ihren Diskurs einbeziehen. Sie verwies auf die hohen Mordraten in Lateinamerika: 2006 bis jetzt 7.000 Ermordete, in den letzten vier Jahren mehr als 4.000 Frauen in Mexiko. In Guatemala zwischen Januar und Juli mehr als 5.000 Ermordete. Sie sagte, sie wolle keinen Anschlag auf den Körper des Betrachters ausüben, sondern diesen mit einer Realität konfrontieren. Die Leichenschauhäuser der verschiedenen Städte und Länder betrachte sie als Abbild des jeweiligen Gewaltniveaus und der dort herrschenden Lebensform und auch –normalität.

Freitag, 20. Oktober 2006

Notizblock 07 (Caravaggio)

Über die Oberkasseler Brücke fahren U-Bahnen nach Oberkassel. (Die nächste Brücke heißt Theodor-Heuss-Brücke und führt von Golzheim nach Niederkassel.)

Zuerst die grüne Kuppel der Tonhalle. Dann das NRW-Forum, Ehrenhof 2, Bruce Naumann, Mental Exercises. Danach museum kunst palast, Caravaggio, Auf den Spuren eines Genies, Ehrenhof 4-5. Dazwischen ein kleines Gebäude, in der Studenten ihre Werke ausstellen, Pavillon der Bildhauerei, von Markus Lüpertz entworfen.

Alle drei Gebäude – der Ehrenhof-Komplex- stammen aus der Mitte der 20er Jahre und wurden von einem Architekten entworfen, Wilhelm Kreis. Die Tonhalle war früher ein Planetarium, wurde während des Kriegs schwer beschädigt und Ende der 70er Jahre umgebaut. Das NRW-Forum ist das ehemalige Reichsministerium für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde. Es wird erst seit 1998 für Ausstellungen genützt. Auch das museum kunst palast wurde Mitte der 90er Jahre renoviert und umgebaut und besteht jetzt aus einem zentralen Kuppelraum im kubischen Anbau, flankiert von zwei Skulpturenhöfe mit Glasdächern.

Beim Betreten des Ehrenhofs ist das nicht sichtbar. Ins Auge stechend die Verbindung von grauem Stein und schmalen roten Ziegeln; die patinierten klassizistischen Skulpturen; einige aus Stein gehauen klobige Figuren an den Portalen. Darüber: ARTIBUS.

Warum Caravaggio? Vor mir aus aufgrund des Unwissens über Biographie, Maltechnik, Sujets. Was seine Malerei betrifft: mehr am Thema Momentaufnahme interessiert, nicht so sehr an der Darstellung von Gewalt.

Relativ schnell durchgegangen, nur ein verstecktes Foto, das nichts zeigt. Sehr dunkle Räume. Auch Kopien sind zu sehen, auch Röntgenaufnahmen, die dazu dienen sollen, die Originale von den Gemälden der Kopisten zu unterscheiden. Manchmal zwei oder mehr Kopien zum Vergleich. Manchmal nur kleine Fotos von den Gemälden, der Originale oder Originalkopien.

Bei Caravaggio dieser Spot auf einem bestimmten Augenblick. Dazu glatter Farbauftrag, für mich eigentlich zu glatt, deutliche Linienführung.

Ich bemerke, daß mich nicht das Barocke distanziert, sondern die Thematik aus Bibel und Mythologie. Ich brauche die Mythologie nicht, obwohl ich mich als Student eingehend damit befaßt habe, nicht ohne Anteilnahme. Mindestens ebenso intensiv mit der Bibel, auch mit einigen Figuren des Alten Testaments.

Meine Distanz zu allem, was die Antike wieder beleben will, was dem Realen einen antiken Mantel überwerfen will. Das heißt nicht, daß ich das nicht als Grundlage aller europäischen Kulturleistung anerkennen will. Aber als Realist berufe ich mich zuerst auf die zeitgenössischen Realien. Wenn ich es für nötig halte, verfolge ich die historischen Entwicklungslinien. Ich will vor allem ins 20. und 21. Jahrhundert eingebunden bleiben, ohne die Zeit davor, weder das 19., das 18. usw. ausschließen zu wollen. Bei Notwendigkeit plädiere ich für einen schweifenden Fokus. Trotzdem beginnt meine Zeitrechnung mit der Aufklärung.

Ob Caravaggio Vorzeichnungen gemacht hat, ist ungeklärt. Die Röntgenbilder jedoch Unterschiede in der Art der Vorzeichnung als Unterscheidungsmerkmal von seinen Schülern. Er selbst hat keine Weißvorzeichnungen gemacht, sondern Ritzungen zur Orientierung mittels der Rückseite des Pinsels, einem Federhalter oder Stichel.

Nur karge Spuren seines Lebens. In Rom, dort aneckend aufgrund der Auffassung von Natur, also dem Erscheinen der Natur auf seinen Bildern. Daß es ihm nicht um das Konservieren des Erhabenen geht, sondern ein neuer Hang zur Wahrheit zutage tritt, macht ihn mir sympathisch, daß er damit Irritation der Kollegen und der nachfolgenden Generationen bewirkt hat.

Mir war nicht bekannt, daß Caravaggio erst 1911 eine Dissertation wieder aus der jahrhundertelangen Vergessenheit befreit und daß erst 40 Jahre später die Ausstellung Caravaggio e i Caravaggeschi in Mailand Startschuß für den bis jetzt anhaltenden Caravaggio –Hype gesorgt hat. Dazu zählen auch Romane wie der von Dominique Fernandez „La course à l’abime“, der die wenigen bekannten Fakten mit 80 % Erfundenem erweitert. Darin wird dieses ständige Zittern vor der Gefahr, wie es in vielen Bildern sichtbar wird, solchen mit Marter, Mord und Enthauptungen, mit Caravaggios Homosexualität erklärt.

Leonardo da Vinci (1452-1519) notiert dazu: „Stelle die Besiegten und Geschlagenen bleich dar,... die Haut über den Brauen von Schmerz zerfurcht,... die Münder offen als stießen sie Klageschreie aus... Mache das Blut durch seine Farbe sichtbar, wie es sich als Rinnsal aus der Leiche in den Staub schlängelt. Zeige andere im Todeskampf mit knirschenden Zähnen, rollenden Augen, die Fäuste gegen den Körper gepreßt und mit verdrehten Beinen.“

Die Diskussion um Zuschreibungen wird durch deren Schwierigkeit geschürt, ähnelt damit oft einem Kunst-Krimi. Daß die gewalttätige Seite der katholischen Religion, also einer monotheistischen Religion, damit das Martyrium, ein zentrales Thema ist, sorgt ebenfalls für Aktualität. Genauso, daß die unsichere Übergangszeit vom 16. zum 17. Jh. mit den heutigen Transformationsprozessen vergleichbar ist.
Es gibt mehrere Gründe, warum ich mich nicht sehr lange bei Caravaggio aufgehalten habe: 1. die Dunkelheit; 2. das Gedränge; 3. die adleräugigen Museumswärter; 4. daß ich mich von Gewalt abgestoßen und verängstigt fühle. Ein abgeschlagener Kopf, auch auf einem Gemälde, bewirkt zweierlei: ich erfahre meine Abstumpfung; ich erfahre mit einem Blick alle Unmenschlichkeit, von der ich umgeben bin. Abgestumpft bin ich, um zu überleben in der zufällig so entstandenen Idylle, deren Schein ich täglich nähre und aufrechterhalte. Das ist auch eine Form der Unmenschlichkeit, denn der einzig wahrhaftige Antrieb wäre der, nicht aus der Beobachterposition zu leben, sondern die Rolle des Handelnden zu übernehmen.

Donnerstag, 19. Oktober 2006

Notizblock 06 (Litfaßsäulen)

Als ich den Schlüssel abgebe, fragt mich der Mann an der Rezeption, der sich jetzt als Halbgrieche vorstellt (seine Mutter sei aus Dresden geflüchtet und habe sich in Athen mit seinem Vater zusammengetan): Warum habe ich keine Rückmeldung bekommen? Die Antwort: Hätte ich einen Brief schreiben sollen?

Ich will zum Rheinufer und nehme den Weg über Fürstenwall, Corneliusstraße und Herzogstraße. Am Ständehaus vorbei, in dem sich die Kunstsammlung K21 befindet. An der stillen Wasserstraße liegen Kaiserteich und Schwanenspiegel. Am Kaiserteich Enten und unten am Ufer ein Paar, das sie füttert. Hinter ihrem Rücken im Gras eine Menge Tauben. Im Schwanenspiegel tatsächlich weiße Schwäne und in dessen Mitte eine kleine Insel mit einem großen Weide. Am Karltor Spees Graben. Darin spiegeln sich zwei schmale Hochhäuser.

Dort die erste Skulptur auf einer runden Litfaßsäule, auf der für einen Film zur Fußball-WM geworben wird, der jetzt anläuft: Deutschland, ein Sommermärchen. Ein Paar, das sich küßt: eine Schwarzhaarige im ärmellosen roten Kleid, die sich fest an einen Mann in einer beigefarbenen Hose und einem hellblauen kurzärmeligen Hemd drückt. Er hat seine Arme um sie gelegt und die Finger in ihrer Taille verschränkt, den Kopf nach vorn gestreckt. So entsteht ein schiefer Hals. Aus der Nähe betrachtet: er küßt sie hingebungsvoll, mit beinahe geschlossenen Augen. Der Lippenstift hat Spuren seitlich von seinem vorgestülpten Mund hinterlassen. Sie trägt kleine Ohrringe und eine Silberkette.

Das Besondere: die Detailgenauigkeit, die man auch als Detailverliebtheit bezeichnen. Das zwingt den Betrachter, darüber nachzudenken, ob der Stoff der Kleidungsstücke echt sind. Dazu trägt auch bei, daß die Farben so matt erscheinen.

Normalerweise ist eine Litfaßsäule nur Werbeträgerin. Hier trägt sie auch eine Skulptur, wird zum Podest, hat eine zusätzliche Funktion bekommen, ist für den Kunstbereich temporär okkupiert worden.

Dieses Podest hebt die Skulptur weit vom Boden ab und plaziert sie in den öffentlichen Raum. Durch die Abhobenheit kann der Schein besser gewahrt werden, daß die Details können nur mittels Foto oder Fernglas wirklich wahrgenommen werden. Dabei taucht die Materialfrage sofort auf, die aber – aufgrund der Distanzierungsfunktion der Litfaßsäule – nicht durch Berührung geklärt werden kann. Die Figuren da oben sind und bleiben unberührbar. Sie haben anscheinend nicht ihre natürliche Größe. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, daß eine bestimmte Proportion zu der Größe der Litfaßsäule hergestellt werden sollte.

Während ich diese Skulptur von mehreren Seiten fotografiere, werde ich von einem Taxifahrer beobachtet. Er lacht, er meint, ich würde wohl gern näherkommen wollen und meint wohl, ich hätte gern die Stelle des Mannes eingenommen. Doch da oben, vor aller Augen, würde ich niemanden so innig küssen wollen. Darüber will ich mit ihm nicht reden und frage ihn daher, wie ich am besten zum Ehrenhof komme. Es ist nur eine Scheinfrage, denn der Rhein ist schon zu sehen.

Ich betrete über die kurze Bäckerstraße das Mannesmannufer. Auf dem Hochhaus sind zwei Fensterputzer in einer schmalen Gondel tätig. Sie putzen, die Gondel schwankt ein wenig. Alles spiegelt sich im Glas. Ich würde so etwas nie tun wollen, ich bin ein völlig unmutiger Mann, der schon in der Vorstellung gewisser Aktionen, die andere Männer erst männlich aktivieren, Angst empfindet.

Dann die Rheinuferpromenade, die von der Tonhalle, in deren Richtung ich gehe, bis über die hinter mir liegende Rheinkniebrücke hinaus, am Landtagsgebäude vorbei, bis zum Düsseldorfer Hafen. Eine Allee von beschnittenen Platanen, die eine Sandbahn einschließt. Diese Platanenallee wird von einem Geh- bzw. Radweg eingefaßt. Die Wege sind mit Wellenbändern aus basaltblau eingefärbten Betonplatten gepflastert, eine naheliegende Anspielung.

Über das Rathausufer. Der Stadtteil, an dem es liegt, heißt Karlstadt. Es folgt die Altstadt, bis zur Oberkasseler Brücke. Nach dem Schloßufer das Joseph-Beuys-Ufer, das schon vor der Oberkasseler Brücke beginnt.

Blauer leicht verhangener Himmel, milde Herbstsonne. Auf der Pegeluhr ist es halb zwei. Spaziergänger, meist in kleinen oder größeren Gruppen, unten am Uferstreifen und oben auf der Promenade. Unten ein schwarzer Jugendlicher mit grüner Kappe, der auf einem Skateboard zwischen in engem Abstand aufgestellten Plastikbechern Schleifen übt. Oben unter den Platanen Bänke, die fast alle besetzt sind. Unten eine Reihe biergartenähnliche Lokale. Auf das Düsseldorfer Rathaus folgt der Schloßturm.

Neben der St. Lambertus-Basilika eine weitere Litfaßssäule mit einer Doppelskulptur: eine Frau, die ein kleines Kind trägt. Auf einem Plakat steht: „Hier und in der benachbarten Barockkapelle des Theresienhospitals (ehemaliges Karmelitessenkloster) geht die Katholische Kirche auf Touristen, Beter und „Seh-Leute“ zu.“

Diese Madonna-mit-Kind-Variante geht auf niemanden zu. In vier Meter Höhe starren Mutter und Kind hinunter auf den Fluß. Vielleicht auch über ihn hinweg auf das gegenüber liegende Ufer. Auch hier wieder aus der Nähe die detailreiche naturgetreue Kleidung. Über einem etwas zu großem, ausgewaschenen T-Shirt eine rosa Weste mit Blümchensaum. Das Blumenmotiv auch am Rock und dem Hemdchen des Kinds. Beide schlampig, wenn nicht ärmlich gekleidet. Die Frau eher breitbeinig, den Kopf eher nach rechts gewandt. Das Kind folgt ihr im Blick.

Auf einer weiteren Säule in einiger Entfernung ein Mann in Bürokleidung, also im grauen Anzug, gestreifter Krawatte, das eine Bein vor das andere setzend, den schwarzen Aktenkoffer nach vorne schwingend, den Kopf streng nach links gewandt, also flußabwärts. Wenn ich seinem Blick folge, mich also umdrehe, sehe ich, etwas vernebelt, die Rheinkniebrücke, dahinter den Rheinturm.

Mittwoch, 18. Oktober 2006

Notizblock 05 (Der Rezeptionist)

Das Hotel habe ich anhand der Websites Düsseldorfer Hotels ausgesucht. Hauptkriterium: ein ruhiges Zimmer zum Hof in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs und an keiner Hauptverkehrsstraße. Das war bei Düsseldorf einfacher als in Dortmund, weil das Düsseldorfer Angebot vielfältiger ist.

Ich habe alles, auch meinen Rucksack, in einen davon recht schweren Koffer gepackt. Ein Rad klappert, aber ich hatte keine Zeit, es austauschen zu lassen. Deshalb muß ich – laut Prospekt – einen halben Kilometer einen ein mir peinliches Geräusch erzeugenden Koffer hinter mir herziehen.

Dabei komme ich nach kurzer Zeit an einem Hotel in der Bismarckstraße vorbei, das ich ausgeschieden habe. Diese Straße wird gerade repariert, es fahren keine Autos, nur die Straßenbahn. Ich gehe dann über die Karlstraße, den Stresemannplatz in die Scheurenstraße und gerate über die Helmholtzstraße zum Fürstenplatz, in dessen Mitte sich ein Park befindet. Es ist ein eher unscheinbares Viertel, mir fällt auf, daß die Straßen nicht sehr rein sind, die Häuser unscheinbar. Außerdem weniger Verkehr als erwartet.

Das Hotel Günnewig liegt auf der ruhigen Seite des Platzes, die Straßenbahn fährt da nicht vorbei. An der einen Schmalseite des Parks ein Denkmal mit patinierten Skulpturen. Denkmäler dieser Art verteilen sich über die ganze Altstadt, wie ich später bemerken werde.

Joviale Begrüßung durch den Mann an der Rezeption: er werde dem Zimmermädchen befehlen, binnen einer Minute fertig zu sein. Ich könne mich inzwischen im Frühstücksraum bedienen. Der ist leer, frühstücken kann man von 7 bis 10 Uhr.

Nach kurzer Zeit taucht er auf und sagt: Sie können gehen! Wenn Sie glauben, daß ich zu Ihnen streng bin, muß ich Sie erinnern, wie streng Sie zu mir am Telefon waren. – Wie denn? – So streng, daß Sie jetzt das ruhigste, größte und schönste Zimmer kriegen!

Das Zimmer ist fertig, der Rezeptionist hat nicht übertrieben: es gibt einen langen Schreibtisch, eine bequeme Sitzbank, ein Tischchen mit vier Stühlen, zwei Fenster zum Innenhof und insgesamt sechs Beleuchtungskörper: eine Tisch-, eine Steh-, eine Deckenlampe; eine Lampe über dem Bett und zwei Leuchten in Vorhangabdeckung, und zwar vor den Vorhängen, sodaß sie auch bei geschlossenen Vorhängen Licht verbreiteten. (Was logisch ist, aber ich habe schon die seltsamsten Beleuchtungskörper in Unterkünften vorgefunden, weshalb ich immer zwei 100-Watt-Birnen mitnehme.) Auf einem Fenster steht ein Schildchen: EXIT. Draußen führt tatsächlich auf eine kleine weiß gestrichene Eisentreppe vorbei zu einer Leiter nach unten. In den darüber liegenden Stockwerken ebenfalls, wodurch alle Zimmer nach hinten eine Fluchtmöglichkeit haben. Gegenüber die Hinterseite eines Wohnhauses. Nur ein leises Rauschen ist zu hören.

Dienstag, 17. Oktober 2006

Notizblock 04 (Schreibender Leser)

Jemand hat die taz liegen gelassen, mir sehr gelegen. Ich lese: -Hilflosigkeit der USA: Super/ohn/macht USA (Bush als Hampelmann auf einer Karikatur), Nordkorea – Atombombe, Irak – Chaos, Iran – Atomprogramm. Damit ist die Weltpolitik in diesen neuen Donnerstag getreten. (Auf Afghanistan hat man vergessen.)

Daß man im französischen Parlament darüber abstimmen will, die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen, erstaunt mich nicht. Auch nicht, dass dies eine Spaltung unter den Armeniern bewirkt. Ich habe ja davon gehört, daß etwa 50.000 Armenier in der Türkei Arbeit gefunden hatten und Schwierigkeiten befürchteten. Erdogan wird weiterhin den Genozid als Lüge bezeichnen, es ist die offizielle Politik. Europatauglichkeit der Türkei lässt sich so – per Gesetz in Frankreich – nicht erzwingen.

Dann das erstaunliche Neuwort „Lehrstellenlücke“ – soll damit der Hang der Journalisten nicht nur zur Kürze, sondern auch zur Alliteration bewiesen werden?

Der Booker-Preis ist für „Erben des verlorenen Landes“ an Kiran Desai verliehen worden - indischer Herkunft, aber nach eigenen Angaben, sowohl dort als auch in England und den USA zu Hause. Mitleidslos beobachtende Einwanderin, heißt es, lässig mit dem kühlem Blick der Melancholie, das Empire schreibt zurück. Die Hauptfiguren: die Abgehängten, die Hybriden der Globalisierung; anglophile Inder in einem schimmelnden Haus, mit ihren Erinnerungen an bessere Zeiten.

Ich lese das mit Interesse, weiß aber zugleich, daß ich mir dieses Buch womöglich kaufen werde (wenn mir die erste Seite gefällt, dazu noch die letzten Sätze), es aber in den Stapeln der nicht gelesenen Bücher landen wird. Bücher kaufen, aus einen momentanen oder länger aufgesparten Impuls heraus – das ist die eine Sache. Aber wie zu ihnen finden, wenn das Lesen immer wieder aufgeschoben werden muß? I

ch erinnere mich, daß ich das erste Buch von Zadie Smith aus einem ähnlichen Motiv gekauft habe: weil es mich, aufgrund meiner langjährigen Kontakte mit Studentinnen und Studenten aus afrikanischen und asiatischen Ländern, beschäftigt, wie die erste und zweite Generation der Einwanderer mit ihrem Leben in dem jeweiligen Einwanderungsland zurechtkommt; wer sich anpasst, wer nicht, aus welchen Gründen; wie die Einheimischen reagieren; wodurch ich an meine Vorurteile erinnert werde und wie ich damit zurecht komme.

Die Situation nach der Großen Koalition in Schweden, Italien und den Niederlanden beobachte ich deshalb, weil es ja auch in Österreich zu einer solchen kommen wird. Ich glaube aber nicht, dass sich etwas aus diesen Ländern übertragen lässt. Der Weg ist durch die vergangenen Großen Koalitionen schon vorgezeichnet, die SPÖ ist in der Vergangenheit in wichtigen Dingen, zum Beispiel den Schulgesetzen, umgefallen und hat außerdem in den sechs Jahren Schüssel-Regierung einen Großteil der Gesetze mitgetragen, also gar nicht oppositionell gehandelt, aus Furcht davor, sich vom „Volkswillen“ zu entfernen.

Es fasziniert mich der Hinweis, dass der deutsche Schriftsteller Jochen Schmidt ein Proust-Blog führt. Er verbringt täglich vier Stunden damit, 20 Seiten „Recherche“ zu lesen. Seine Kritiker halten ihm vor, es sei anmaßend Proust ohne Vorkenntnisse zu lesen, „Recherche“ als Stichwortgeber missbrauchen und Prousts Erfahrungen mit den eigenen vergleichen. Schmids Gegenargument: das Buch handle vom Leser, der, während er das Buch liest, in sich selbst liest, sich also lesend auch über sich selbst aufklärt.

Der schreibende Leser, der lesende Schreiber: Schmid beschreibt im Tagebuch alltägliche Erfahrungen; darauf folgen kommentierende Passagen; und schließlich findet man auch noch „selbständige lebensfähige Sentenzen“ von Proust.
„Schreibend bildet die ‚Recherche’ den roten Faden, der im echten Leben selten erkennbar ist; eine Art Folie, auf der sich alles Mögliche abbilden lässt – alles, was so in einem drin ist und wie es geworden ist, die Abfolge der unterschiedlichen Ichs und die Orte, wo sie stattgefunden haben.

Montag, 16. Oktober 2006

Notizblock 03 (Café Coupé)

Die Schaffnerin bringt um 7 Uhr das Frühstück, mit der Nachricht, der Zug habe Verspätung, ich könne mir Zeit lassen. Ich lege mich nochmals hin, spiele mit meiner Einbildungskraft, tausche den inzwischen verschwundenen Mann durch eine Frau in seinem Alter aus. Sie kuschelt sich an mich, ohne ein Wort zu reden. Mir bleibt auch die Sprache weg, und das ist gut so. Ich habe stumme Zärtlichkeit am Morgen gern: die restliche Nachtwärme, die restliche Traumschwere, die weichen, vom überschüssigen Wasser befreiten Körper, die lauernden Tagespläne. Die vergangene Nacht steht noch in der Tür, der angebrochene Tag leuchtet schon.

Ich bin einmal in der Nacht aufgestanden, der Gang war leer, draußen alles dunkel. Ich wartete eine Weile, um herauszufinden, wo wir uns befanden. Aber nur ab und zu ein Licht. Dunkles Deutschland, dachte ich und stellte fest, dass ich mehr Licht erwartet hätte.

Die Schaffnerin klopft nach kurzer Zeit und sagt, sie habe sich geirrt, der Zug komme beinahe pünktlich an, also in wenigen Minuten.

Das ist die Ursache dafür, daß ich beinahe als letzter den Zug verlasse, nun fast allein auf einem fast leeren Bahnsteig Nr. 16 stehe. Die Uhr zeigt 7.27 Uhr.

Mich stört meine etwas unscharfe Sicht ohne Brille. Aber ich nehme sie nur zum Lesen. Es ist störend genug, darauf ständig darauf achten zu müssen, sie mitzunehmen oder nicht irgendwo liegen zu lassen. Ich bin ein gewohnheitsmäßiger Brillensucher und verachte Menschen, die sich ihre Brille um den Hals hängen haben. Ich finde es auch komisch, wenn sich Frauen, aber auch Männer damit schmücken, indem sie sich vor allem Sonnenbrillen ins Haar stecken.

In der Halle des Bahnhofs Düsseldorf eine ununterbrochen zu den beiden Ausgängen hin eilende sehr abwechslungsreiche Menschenmenge, entweder zum Konrad-Adenauerplatz und Bertha-von-Suttner-Platz hin. Es ist mir sehr angenehm, diese mir völlig unbekannten Individuen in solch heftiger ununterbrochener Bewegung zu sehen.

Da mir das Zimmer erst ab 10 Uhr zur Verfügung steht, setze ich mich ins Café Coupé und bestelle eine Milch. Die Kellnerin sagt: Milch? Haben wir nicht in unserem Angebot. Sie sieht mein Erstaunen. Vielleicht Kakao? Gut, dann Kakao, ohne Sahne!

Ich denke daran, daß es nun draußen schon hell sein würde. Zugleich suche ich auf dem sehr kleinen Plan eines Teils der Innenstadt auf einem der Stadtprospekte den Weg zum Hotel.
In der Brieftasche finde ich einen Zettel, auf dem steht, in meiner flüchtigsten Handschrift notiert: Caravaggio, Körper auf Papier, Spencer Tunick. Kunsthalle, Kunstverein, Kunstsammlung NRW. Das sollte für den ersten Tag reichen.

Notizblock 02 (Couchette)

Ich fahre in einem Vierercouchette. Ich habe nur einen Schlafgenossen, einen jungen Mann, der sich mit mir gern unterhalten hätte. Ich will aber bei meinem Notizbuch bleiben und blicke nur ab und zu auf, wenn er über etwas, was er in der Zeitung liest, auflacht oder dazu eine Bemerkung macht. Das meiste bezieht sich auf die kurz zurückliegende Nationalratswahl. Er tut so, als würde er mich kennen und als würde er auch der gleichen Meinung über das Ergebnis sein.

Wir hören das Gespräch der Schaffnerin, die ein sehr gutes Englisch spricht und zwar mit einem Koreaner, der vor ihrem Abteil wartet und zwar darauf, dass er noch einem Schlafplatz in diesem Waggon kriegt. Kurz nach der Abfahrt nennt sie ihm dann ein Abteil, in dem noch etwas frei ist. Sie sagt: The train arrives (wo höre ich nicht, weil der junge Mann auflacht) at three o'clock. Would you like to have a breakfast? Der Koreaner: Yes! Sie: You arrive at three o'clock! Der Koreaner: Yes! Sie: Three o'clock, ok, ok! Tea or coffee? Der junge Mann kann sich vor Lachen nicht halten und wiederholt mehrmals: Breakfast at three o'clock, maybe at two o'clock, ok,ok?

Er legt sich bald in ein oberes Bett, in das mir gegenüber. Ich bleibe unten. Es kommt niemand mehr, also beiben wir zu zweit. Er liegt am Rücken, liest in einem Buch, lacht dabei manchmal auf, schneuzt sich oft und intensiv und schlürft aus der mitgebrachten Thermosflasche heißen Tee.

Ich schreibe und lese bis 23 Uhr. Dann falte ich zwei Doppelblätter der Zeitung und lege beide so auf die Lüftung, daß alle Schlitze bedeckt sind. Mit einem Klebeband quer drüber fixiere ich sie.

Ich habe mir drei Decken bringen lassen. Eine nehme ich jetzt und klemme ihre Längsseite im Bett über mir fest. Sie ist groß genug, um mich als Liegenden völlig vom Licht und größtenteils von der Restzugluft abzuschotten. Die zweite Decke lege ich so zusammen, dass sie als Kissenersatz dienen kann. Ich habe aber noch einen Kipferlpolster mit, der mir auch sonst immer den Schlaf erleichtert. Ich klappe den Decke herunter, zeihe mich dahinter aus und versuche, mich vom Gelächter der Männer am Gang abzulenken, die vor einiger Zeit zugestiegen sind. Sie unterhalten sich nur mit kurzen Sätzen oder Satzfragmenten, um dann sofort losplatzten. Ich kann nichts von dem verstehen, was sie so zum Lachen anfeuert. Ihre Lachsalven ärgern mich, und ich überlege, ob ich nicht aufstehen soll, um sie zu bitten, sich ins Coupé zu begeben. Ich überlege mir viele freundliche Sätze. Darüber schlafe ich ein.

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