Donnerstag, 19. Oktober 2006

Notizblock 06 (Litfaßsäulen)

Als ich den Schlüssel abgebe, fragt mich der Mann an der Rezeption, der sich jetzt als Halbgrieche vorstellt (seine Mutter sei aus Dresden geflüchtet und habe sich in Athen mit seinem Vater zusammengetan): Warum habe ich keine Rückmeldung bekommen? Die Antwort: Hätte ich einen Brief schreiben sollen?

Ich will zum Rheinufer und nehme den Weg über Fürstenwall, Corneliusstraße und Herzogstraße. Am Ständehaus vorbei, in dem sich die Kunstsammlung K21 befindet. An der stillen Wasserstraße liegen Kaiserteich und Schwanenspiegel. Am Kaiserteich Enten und unten am Ufer ein Paar, das sie füttert. Hinter ihrem Rücken im Gras eine Menge Tauben. Im Schwanenspiegel tatsächlich weiße Schwäne und in dessen Mitte eine kleine Insel mit einem großen Weide. Am Karltor Spees Graben. Darin spiegeln sich zwei schmale Hochhäuser.

Dort die erste Skulptur auf einer runden Litfaßsäule, auf der für einen Film zur Fußball-WM geworben wird, der jetzt anläuft: Deutschland, ein Sommermärchen. Ein Paar, das sich küßt: eine Schwarzhaarige im ärmellosen roten Kleid, die sich fest an einen Mann in einer beigefarbenen Hose und einem hellblauen kurzärmeligen Hemd drückt. Er hat seine Arme um sie gelegt und die Finger in ihrer Taille verschränkt, den Kopf nach vorn gestreckt. So entsteht ein schiefer Hals. Aus der Nähe betrachtet: er küßt sie hingebungsvoll, mit beinahe geschlossenen Augen. Der Lippenstift hat Spuren seitlich von seinem vorgestülpten Mund hinterlassen. Sie trägt kleine Ohrringe und eine Silberkette.

Das Besondere: die Detailgenauigkeit, die man auch als Detailverliebtheit bezeichnen. Das zwingt den Betrachter, darüber nachzudenken, ob der Stoff der Kleidungsstücke echt sind. Dazu trägt auch bei, daß die Farben so matt erscheinen.

Normalerweise ist eine Litfaßsäule nur Werbeträgerin. Hier trägt sie auch eine Skulptur, wird zum Podest, hat eine zusätzliche Funktion bekommen, ist für den Kunstbereich temporär okkupiert worden.

Dieses Podest hebt die Skulptur weit vom Boden ab und plaziert sie in den öffentlichen Raum. Durch die Abhobenheit kann der Schein besser gewahrt werden, daß die Details können nur mittels Foto oder Fernglas wirklich wahrgenommen werden. Dabei taucht die Materialfrage sofort auf, die aber – aufgrund der Distanzierungsfunktion der Litfaßsäule – nicht durch Berührung geklärt werden kann. Die Figuren da oben sind und bleiben unberührbar. Sie haben anscheinend nicht ihre natürliche Größe. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, daß eine bestimmte Proportion zu der Größe der Litfaßsäule hergestellt werden sollte.

Während ich diese Skulptur von mehreren Seiten fotografiere, werde ich von einem Taxifahrer beobachtet. Er lacht, er meint, ich würde wohl gern näherkommen wollen und meint wohl, ich hätte gern die Stelle des Mannes eingenommen. Doch da oben, vor aller Augen, würde ich niemanden so innig küssen wollen. Darüber will ich mit ihm nicht reden und frage ihn daher, wie ich am besten zum Ehrenhof komme. Es ist nur eine Scheinfrage, denn der Rhein ist schon zu sehen.

Ich betrete über die kurze Bäckerstraße das Mannesmannufer. Auf dem Hochhaus sind zwei Fensterputzer in einer schmalen Gondel tätig. Sie putzen, die Gondel schwankt ein wenig. Alles spiegelt sich im Glas. Ich würde so etwas nie tun wollen, ich bin ein völlig unmutiger Mann, der schon in der Vorstellung gewisser Aktionen, die andere Männer erst männlich aktivieren, Angst empfindet.

Dann die Rheinuferpromenade, die von der Tonhalle, in deren Richtung ich gehe, bis über die hinter mir liegende Rheinkniebrücke hinaus, am Landtagsgebäude vorbei, bis zum Düsseldorfer Hafen. Eine Allee von beschnittenen Platanen, die eine Sandbahn einschließt. Diese Platanenallee wird von einem Geh- bzw. Radweg eingefaßt. Die Wege sind mit Wellenbändern aus basaltblau eingefärbten Betonplatten gepflastert, eine naheliegende Anspielung.

Über das Rathausufer. Der Stadtteil, an dem es liegt, heißt Karlstadt. Es folgt die Altstadt, bis zur Oberkasseler Brücke. Nach dem Schloßufer das Joseph-Beuys-Ufer, das schon vor der Oberkasseler Brücke beginnt.

Blauer leicht verhangener Himmel, milde Herbstsonne. Auf der Pegeluhr ist es halb zwei. Spaziergänger, meist in kleinen oder größeren Gruppen, unten am Uferstreifen und oben auf der Promenade. Unten ein schwarzer Jugendlicher mit grüner Kappe, der auf einem Skateboard zwischen in engem Abstand aufgestellten Plastikbechern Schleifen übt. Oben unter den Platanen Bänke, die fast alle besetzt sind. Unten eine Reihe biergartenähnliche Lokale. Auf das Düsseldorfer Rathaus folgt der Schloßturm.

Neben der St. Lambertus-Basilika eine weitere Litfaßssäule mit einer Doppelskulptur: eine Frau, die ein kleines Kind trägt. Auf einem Plakat steht: „Hier und in der benachbarten Barockkapelle des Theresienhospitals (ehemaliges Karmelitessenkloster) geht die Katholische Kirche auf Touristen, Beter und „Seh-Leute“ zu.“

Diese Madonna-mit-Kind-Variante geht auf niemanden zu. In vier Meter Höhe starren Mutter und Kind hinunter auf den Fluß. Vielleicht auch über ihn hinweg auf das gegenüber liegende Ufer. Auch hier wieder aus der Nähe die detailreiche naturgetreue Kleidung. Über einem etwas zu großem, ausgewaschenen T-Shirt eine rosa Weste mit Blümchensaum. Das Blumenmotiv auch am Rock und dem Hemdchen des Kinds. Beide schlampig, wenn nicht ärmlich gekleidet. Die Frau eher breitbeinig, den Kopf eher nach rechts gewandt. Das Kind folgt ihr im Blick.

Auf einer weiteren Säule in einiger Entfernung ein Mann in Bürokleidung, also im grauen Anzug, gestreifter Krawatte, das eine Bein vor das andere setzend, den schwarzen Aktenkoffer nach vorne schwingend, den Kopf streng nach links gewandt, also flußabwärts. Wenn ich seinem Blick folge, mich also umdrehe, sehe ich, etwas vernebelt, die Rheinkniebrücke, dahinter den Rheinturm.

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