Notizblock 02 (Couchette)

Ich fahre in einem Vierercouchette. Ich habe nur einen Schlafgenossen, einen jungen Mann, der sich mit mir gern unterhalten hätte. Ich will aber bei meinem Notizbuch bleiben und blicke nur ab und zu auf, wenn er über etwas, was er in der Zeitung liest, auflacht oder dazu eine Bemerkung macht. Das meiste bezieht sich auf die kurz zurückliegende Nationalratswahl. Er tut so, als würde er mich kennen und als würde er auch der gleichen Meinung über das Ergebnis sein.

Wir hören das Gespräch der Schaffnerin, die ein sehr gutes Englisch spricht und zwar mit einem Koreaner, der vor ihrem Abteil wartet und zwar darauf, dass er noch einem Schlafplatz in diesem Waggon kriegt. Kurz nach der Abfahrt nennt sie ihm dann ein Abteil, in dem noch etwas frei ist. Sie sagt: The train arrives (wo höre ich nicht, weil der junge Mann auflacht) at three o'clock. Would you like to have a breakfast? Der Koreaner: Yes! Sie: You arrive at three o'clock! Der Koreaner: Yes! Sie: Three o'clock, ok, ok! Tea or coffee? Der junge Mann kann sich vor Lachen nicht halten und wiederholt mehrmals: Breakfast at three o'clock, maybe at two o'clock, ok,ok?

Er legt sich bald in ein oberes Bett, in das mir gegenüber. Ich bleibe unten. Es kommt niemand mehr, also beiben wir zu zweit. Er liegt am Rücken, liest in einem Buch, lacht dabei manchmal auf, schneuzt sich oft und intensiv und schlürft aus der mitgebrachten Thermosflasche heißen Tee.

Ich schreibe und lese bis 23 Uhr. Dann falte ich zwei Doppelblätter der Zeitung und lege beide so auf die Lüftung, daß alle Schlitze bedeckt sind. Mit einem Klebeband quer drüber fixiere ich sie.

Ich habe mir drei Decken bringen lassen. Eine nehme ich jetzt und klemme ihre Längsseite im Bett über mir fest. Sie ist groß genug, um mich als Liegenden völlig vom Licht und größtenteils von der Restzugluft abzuschotten. Die zweite Decke lege ich so zusammen, dass sie als Kissenersatz dienen kann. Ich habe aber noch einen Kipferlpolster mit, der mir auch sonst immer den Schlaf erleichtert. Ich klappe den Decke herunter, zeihe mich dahinter aus und versuche, mich vom Gelächter der Männer am Gang abzulenken, die vor einiger Zeit zugestiegen sind. Sie unterhalten sich nur mit kurzen Sätzen oder Satzfragmenten, um dann sofort losplatzten. Ich kann nichts von dem verstehen, was sie so zum Lachen anfeuert. Ihre Lachsalven ärgern mich, und ich überlege, ob ich nicht aufstehen soll, um sie zu bitten, sich ins Coupé zu begeben. Ich überlege mir viele freundliche Sätze. Darüber schlafe ich ein.

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