Dienstag, 17. Oktober 2006

Notizblock 04 (Schreibender Leser)

Jemand hat die taz liegen gelassen, mir sehr gelegen. Ich lese: -Hilflosigkeit der USA: Super/ohn/macht USA (Bush als Hampelmann auf einer Karikatur), Nordkorea – Atombombe, Irak – Chaos, Iran – Atomprogramm. Damit ist die Weltpolitik in diesen neuen Donnerstag getreten. (Auf Afghanistan hat man vergessen.)

Daß man im französischen Parlament darüber abstimmen will, die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen, erstaunt mich nicht. Auch nicht, dass dies eine Spaltung unter den Armeniern bewirkt. Ich habe ja davon gehört, daß etwa 50.000 Armenier in der Türkei Arbeit gefunden hatten und Schwierigkeiten befürchteten. Erdogan wird weiterhin den Genozid als Lüge bezeichnen, es ist die offizielle Politik. Europatauglichkeit der Türkei lässt sich so – per Gesetz in Frankreich – nicht erzwingen.

Dann das erstaunliche Neuwort „Lehrstellenlücke“ – soll damit der Hang der Journalisten nicht nur zur Kürze, sondern auch zur Alliteration bewiesen werden?

Der Booker-Preis ist für „Erben des verlorenen Landes“ an Kiran Desai verliehen worden - indischer Herkunft, aber nach eigenen Angaben, sowohl dort als auch in England und den USA zu Hause. Mitleidslos beobachtende Einwanderin, heißt es, lässig mit dem kühlem Blick der Melancholie, das Empire schreibt zurück. Die Hauptfiguren: die Abgehängten, die Hybriden der Globalisierung; anglophile Inder in einem schimmelnden Haus, mit ihren Erinnerungen an bessere Zeiten.

Ich lese das mit Interesse, weiß aber zugleich, daß ich mir dieses Buch womöglich kaufen werde (wenn mir die erste Seite gefällt, dazu noch die letzten Sätze), es aber in den Stapeln der nicht gelesenen Bücher landen wird. Bücher kaufen, aus einen momentanen oder länger aufgesparten Impuls heraus – das ist die eine Sache. Aber wie zu ihnen finden, wenn das Lesen immer wieder aufgeschoben werden muß? I

ch erinnere mich, daß ich das erste Buch von Zadie Smith aus einem ähnlichen Motiv gekauft habe: weil es mich, aufgrund meiner langjährigen Kontakte mit Studentinnen und Studenten aus afrikanischen und asiatischen Ländern, beschäftigt, wie die erste und zweite Generation der Einwanderer mit ihrem Leben in dem jeweiligen Einwanderungsland zurechtkommt; wer sich anpasst, wer nicht, aus welchen Gründen; wie die Einheimischen reagieren; wodurch ich an meine Vorurteile erinnert werde und wie ich damit zurecht komme.

Die Situation nach der Großen Koalition in Schweden, Italien und den Niederlanden beobachte ich deshalb, weil es ja auch in Österreich zu einer solchen kommen wird. Ich glaube aber nicht, dass sich etwas aus diesen Ländern übertragen lässt. Der Weg ist durch die vergangenen Großen Koalitionen schon vorgezeichnet, die SPÖ ist in der Vergangenheit in wichtigen Dingen, zum Beispiel den Schulgesetzen, umgefallen und hat außerdem in den sechs Jahren Schüssel-Regierung einen Großteil der Gesetze mitgetragen, also gar nicht oppositionell gehandelt, aus Furcht davor, sich vom „Volkswillen“ zu entfernen.

Es fasziniert mich der Hinweis, dass der deutsche Schriftsteller Jochen Schmidt ein Proust-Blog führt. Er verbringt täglich vier Stunden damit, 20 Seiten „Recherche“ zu lesen. Seine Kritiker halten ihm vor, es sei anmaßend Proust ohne Vorkenntnisse zu lesen, „Recherche“ als Stichwortgeber missbrauchen und Prousts Erfahrungen mit den eigenen vergleichen. Schmids Gegenargument: das Buch handle vom Leser, der, während er das Buch liest, in sich selbst liest, sich also lesend auch über sich selbst aufklärt.

Der schreibende Leser, der lesende Schreiber: Schmid beschreibt im Tagebuch alltägliche Erfahrungen; darauf folgen kommentierende Passagen; und schließlich findet man auch noch „selbständige lebensfähige Sentenzen“ von Proust.
„Schreibend bildet die ‚Recherche’ den roten Faden, der im echten Leben selten erkennbar ist; eine Art Folie, auf der sich alles Mögliche abbilden lässt – alles, was so in einem drin ist und wie es geworden ist, die Abfolge der unterschiedlichen Ichs und die Orte, wo sie stattgefunden haben.

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