Montag, 23. Oktober 2006

Notizblock 10 (Kö)

Ich ging durch die Altstadt und kam zum ersten Mal auf die Königsallee. Ich war verblüfft: ein kerzengerader Kanal, zu beiden Seiten bestanden mit großen. alten Platanen und Kastanienbäumen, in nahen Abständen auf Brücken zu überqueren. Das war also die schon mehrmals genannte „Kö“, meist als „Prachtmeile“ beschrieben, während sich die „Freßmeile“ in der Bolkerstraße und deren Umgebung befindet. Ich notierte mir folgende Lokale: Bolker 9, Am Jan Weber, Diebels Fasskeller, Louisiana, Da Spiegel, Nightlive, Café Madrid, Pizzahut, Weißer Bär, Coronado, Zum Schlüssel, Zum Goldenen Kessel, Häagen Daz, Balthasar. Irgendwo dazwischen die Elefanten-Apotheke, ein Zahnarzt, ein Internist und ein evangelischer Kindergarten.

Auffällig war, daß sich – als ich von der Elberfeldstraße einbog – die Königsallee nach rechts hin erstreckt, mir etwa einen Kilometer lang erscheinend, von Norden nach Süden, wie an der Sonne zu sehen war, vom Hofgarten zur Friedrichstadt, dem Stadtteil, in dem mein Hotel liegt. Das Wasser im Kanal fließt nach Norden. Der müßte demnach aus dem Schwanenspiegel entspringen, was jedoch aus der Karte nicht ersichtlich ist. Doch der Zufluß zur Landskrone, einem s-förmigen Teich am Rand des Hofgartens, ist eingezeichnet.

Beim Weitergehen bemerkte ich gleich, daß die Westseite fest in Banker-Hand ist: Deutsche Bank, Commerzbank, beide sich über einen ganzen Block erstreckend, und Trinkaus & Burkhardt, die älteste Privatbank Düsseldorfs - alle hier ansässig. (Der Heinrich-Heine-Platz schließt im Süden mit der Trinkausgasse ab.)

Also wollte ich auf die Ostseite wechseln, um mich von dem unablässigen Menschenstrom mitreißen zu lassen, von dem sich wieder Seitenlinien über die Girardetbrücke in Richtung Innenstadt abspalteten. Ich blieb aber auf eine kleiner Bastion in der Mitte der Brücke. Auf einer der beiden Bänke saß bereits ein junges Paar, das – so meine Annahme – mir über die Schulter beim Schreiben und Lesen zuschauen würde. Denn die Skulpturengruppe, ein Fisch mit einem mächtigen Schwanz, der gerade von einem „Fischer“ mit einer Lanze erstochen wird, während ihm ihn steinerner Knabe von hinten dabei zuschaut, war wohl ein ihnen wohl allzu bekanntes Motiv.

Ich nahm mir die Zeit, um in die Vergangenheit abzutauchen, ohne meine gegenwärtigen Sinne zu verlieren. Ich beobachtete weiterhin, was sich rundherum tat und erwartete von dem Pärchen zumindest ab und zu ein Wort.

Mein Ausblick verband mich mit den Koalitionskriegen, in denen Frankreich seit 1795 die linksrheinischen Gebiete besetzt hatte, aufgrund schon früher erhobener Ansprüche. Zwei Jahre später wurden sie dem französischen Staatgebiet angeschlossen, Napoleon Bonaparte nahm sie am 9. März 1801 offiziell in Besitz, nachdem es einen Monat vorher zum Frieden von Lunéville gekommen war, unterzeichnet von ihm und Franz II. für Österreich und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Auch der zweite Versuch des Europäischen "Mächtekonzerts" (Großbritanniens, Österreichs, Rußlands, des Osmanisches Reichs, Portugals und des Kirchenstaats), die Französische Revolution und ihre Auswirkungen einzudämmen oder gar ganz rückgängig zu machen, war mißlungen.

Interessant ist, daß dadurch französische Gesetze staatsrechtliche Anerkennung erhielten, die subsidiär in den linksrheinischen deutschen Bundesländern noch bis heute oder auch in jüngste Zeit gelten, etwa das hauptberufliche sog. linksrheinische Notariat, das Friedhofswesen oder bestimmte Staatsleistungen an die Kirchen. Der für die Wirtschaftsentwicklung des Rheinlands wichtige Code Civil wurde dort erst 1900 durch das Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst.

Nachdem das Pärchen gegangen war, wurde die Bank neben mir bald von einem gut gekleideten Bürger besetzt, der sich mit einer Tasche und einem Aktenkoffer breit machte, um sogleich seine Handybox abzuhören und dann einige Nummern zurückzurufen, wobei er mir den Rücken zuwandte. Einmal stand er auf und lehnte sich an das geschwungene Metallgeländer, zum Graben hin redend.

Schließlich, recht unvermittelt, sprach er mich an, da ich jetzt nichts schrieb, und fragte, ob ich von hier sei, eine – wie er gleich anfügte – müßige Frage, da ja die meisten auf den Straßen nicht von hier seien. Ich nannte meinen Herkunftsort, und er sagte: Dann muß ich Ihnen schnell die Namensgeschichte erzählen. Hab ja eigentlich keine Zeit, aber manchmal muß man doch eine kleine Pause einlegen können, nicht?

Daß die Königsallee ihren Namen einer Entschuldigung des Magistrats gegenüber König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen verdanke. 1850 - oder 1851? - habe sich eine Delegation des Rates samt Bürgermeister nach Berlin begeben, wo sie - im Frühling, im März jedenfalls - vom König im Schloß Charlottenburg empfangen wurden. Dem sei dabei als kleinen Akt einer Wiedergutmachung angeboten worden, die Kastanienallee in Königsallee umzubenennen, was der König gnädigst zu genehmigen geruht habe.

Sie werden jetzt fragen, was denn passiert war, um diesen Herrn gnädig stimmen zu wollen? Sie wissen ja, das war damals eine unruhige Zeit, die Jahre um 1848. Die blutige Revolution in Frankreich, die republikanische Partei hat über die Juli-Regierung gesiegt, in Deutschland haben große Teile der Bevölkerung Presse- und Versammlungsfreiheit und Volksbewaffnung gefordert. Auch die Bürger dieser Stadt haben den König in einer Petition gebeten, Pressefreiheit zu gewähren und die Zensurgesetze zu beseitigen.

Worum ist es eigentlich gegangen? Um eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, um soziale Gerechtigkeit. Ja, das wollten sie alle, Sie können sich’s denken - die Handwerker, die Gesellen, die Gelegenheitsarbeiter, aber natürlich auch die Intellektuellen und Künstler. Und in Düsseldorf stellte der Stadtrat deshalb eine Bürgergarde auf.

Er blickte auf die Uhr: Ich sag Ihnen das weitere nur in Stichwörtern - Deutsche Nationalversammlung, in Frankfurt, von wegen Deutscher Einheit. Dem Preußenkönig haben die deutschen Staaten die deutsche Kaiserkrone angetragen.

Naja, was soll ich sagen: mitten im Sommer 1848 hätte ein großes Einheitsfest stattfinden sollen, zur Verbrüderung von Bürgerschaft und Militär, auf dem heutigen Grabbe-Platz, von dem Sie wahrscheinlich kommen, hat man eine kolossale Germania-Statue aufgestellt. Kolossale Stimmung, sag ich Ihnen, wirklich kolossal! Ja, und der Preußenkönig, der sich ja gegen jede demokratische Bewegung gestellt hat, wollte seinen Schwager besuchen, einen Hohenzollern-Prinzen hier in seinem Schloß, gewissermaßen eine Provokation.

Also Diskussion, Diskussion, ob man den überhaupt und wer dann zum Bahnhof, ja, Bahnhof, es hat ja schon eine Eisenbahn gegeben, nach Köln, wohin der Preuße eigentlich wollte - wo sie begonnen hat, weiß ich nicht. Gut, man beschloß die Begrüßung, und der König und sein ganzer Anhang, die fuhren in offenen Kutschen vom Bahnhof zum Schloß, und der Weg führte eben da über die Kastanienalle. Menschen von überall aus der ganzen Umgebung hier, mit der Eisenbahn, mit dem Schiff gekommen oder zu Fuß. Nicht nur Jubel, keineswegs, das können Sie mir glauben!

Das Handy läutete, er schaute auf das Display und sagte: Ah, tut mir leid, ich muß weg. Er nickte mir zu, lächelte: Bei Interesse mehr im Internet! Tschüß!

Da fand ich dazu tatsächlich einen Tagebuch-Eintrag von Albert Küster aus Jahr 1906: "Mit Pfeifen und Brüllen wurde der König von einer großen Menge begrüßt, auf der Kastanienallee wurde er und der neben ihm sitzende Prinz Friedrich von einem Buben, der an den Wagen heransprang, sogar mit Kot beworfen. Mein Vater und ich standen in der Nähe, so daß die Einzelheiten trotz der dicht gedrängten Menge, in welche der Junge verschwand, uns nicht entgingen. Prinz Friedrich erhob sich im Wagen und entfernte von dem Anzuge des Königs den darauf haftenden Schmutz. Der empörende Auftritt erregte bei jedem ordentlichen Menschen, selbst den republikanisch gesinnten, den gerechtesten Abscheu."

Und aus anderer Quelle: „Die Kutsche fuhr schneller und brachte den König zum Schloss Jägerhof, wo er von der Generalität empfangen wurde. Hier gab es dann ein Diner, an dem auch Honoratioren der Regierung und der Stadt teilnahmen. Gegen halb 6 Uhr setzte der König seine Reise nach Köln mit dem Sonderzug fort. Schnell verbreitete sich die Nachricht, der König sei ausgebuht und von einem Pferdeapfel getroffen worden, in der Stadt. Vor allem die Soldaten der preußischen Garnison empfanden dies als persönlichen Affront und gingen mit gezücktem Säbel gegen Düsseldorfer Bürger vor. Eine Bürgerwehrpatrouille versuchte vergeblich zu schlichten, Bürger bewaffneten sich, das Gedränge wurde immer größer, schließlich fielen Schüsse. Die Bilanz der Auseinandersetzung, die bis in die Nacht dauerte waren vier Tote, darunter drei Soldaten und ein Bürger, sowie zahlreiche Verletzte.

Der Stadtrat verurteilte die Übergriffe der Soldaten, beschloss Maßregeln gegen die Unruhen und entschuldigte sich für die Exzesse sowohl beim preußischen König als auch bei Prinz Friedrich. Den Ruf "Hauptherd der Anarchie und Unordnung für die Rheinprovinz" zu sein, wurde die Stadt aber so schnell nicht wieder los, auch hatte der sehr beliebte und freigiebige Prinz Friedrich beschlossen, nicht mehr in Düsseldorf zu wohnen. Er verließ die Stadt unter Protest und zog sich nach Berlin zurück. Erst 1855 kam eine Versöhnung mit der Stadt Düsseldorf zustande. Ihrem Ruf als Unruheherd wurde die Stadt Düsseldorf wieder im Mai 1849 gerecht, als es zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Bürgern und dem preußischen Militär kam. Diesmal griff die Staatsmacht jedoch so rigoros durch, dass aller Widerstand erstickt wurde.“

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